Irmela Wiemann. Adoption, Pflegekinder, Biografiearbeit – Artikel bis 2002


Adoption – ein besonderes Schicksal

spielen und lernen, Heft 07/2002, Freiburg

Ein Kind zu adoptieren bedeutet eine große Herausforderung. Adoptiveltern und -kinder bewegen sich im Spannungsfeld zwischen dem Bestreben, eine »normale« Familie zu sein und dem Akzeptieren der besonderen Situation. Irmela Wiemann begleitet seit 25 Jahren Familien auf diesem Weg und beschreibt, warum der offene, ehrliche Umgang mit der Tatsache »Adoption« so wichtig ist.

Der fünfjährige Jan sagt öfter zu seiner Mama: »Ich möchte aus deinem Bauch sein.« Seine Adoptivmutter antwortet: »Ich hätte dich auch lieber in meinem Bauch gehabt.« Dann legt sich Jan auf ihren Bauch, sie legt eine Decke über ihn und er kriecht darunter heraus. »Jetzt hast du mich geboren«, erklärt Jan. ...

Spielerisch teilt Jan mit: »Ich möchte kein Ausnahmekind sein, ich will zu meinen Eltern gehören, so wie alle anderen Kinder auch.« Sein Spiel findet bei seiner Mutter ein positives Echo. Möglicherweise spürt Jan, dass die Adoptiveltern sich jahrelang ein eigenes Kind gewünscht haben. Vielleicht möchte er mit dem Geburtsspiel sogar unbewusst den alten Kummer seiner Eltern lindern, kein Kind geboren zu haben. Sein Unterbewusstsein stellt Fragen: »Kann ich sie als angenommenes Kind denn zufrieden stellen? Gleiche ich ihrem Wunschkind?« Und wenn er von seiner Gefühlsmama geboren wäre, dann gäbe es nicht solch schmerzliche Fragen, wie: »Weshalb wollte meine erste Mutter mich nicht? Warum hat sie mich hergegeben? Ist etwas an mir nicht richtig? Oder sind meine ersten Eltern schlechte Menschen? Und bin ich als Teil von ihnen möglicherweise auch schlecht?«

Hilfe zur Erziehung in Familienpflege: Ersatz, Ergänzung oder Assistenz für die Herkunftsfamilie?

Unsere Jugend, Heft 05/2002, S. 214 bis 222, München

Oftmals sind Pflegeeltern, Eltern und erst recht die Kinder oder Jugendlichen unsicher über ihre Aufträge und Rollen. Wer sind denn nun die »wirklichen Eltern« des Kindes? Die sozialen Eltern oder die Herkunftseltern?

Rollenkonflikte von Pflegeeltern und Pflegekind
»Seltsam genug, dass Kinder zu ihren leiblichen Eltern oder Elternteilen zu Besuch gehen – gehen müssen. Da sind also Eltern, die gar nicht Eltern sind in dem Sinne, wie wir es gewöhnlich verstehen. Und da sind Pflegeeltern, die auch nicht Eltern im üblichen Sinne sind. Und dazwischen das Kind?« (Kathrin B. Zatti, Netz, 2/99, S. 3).

Es gibt oft kein positives Modell für Kinder, zwei Familien gleichzeitig zu haben. Kinder und Erwachsene einer Pflegefamilie leben in dem Widerspruch, dass sie wie eine »richtige Privatfamilie« zusammenleben und das Kind gleichzeitig noch eigene Eltern hat und die Pflegefamilie eine Leistung für die öffentliche Jugendhilfe erbringt. Deshalb werden Pflegeeltern finanziell unterstützt. Sie müssen nicht wie sonst Eltern für den Unterhalt des Kindes aufkommen und erhalten einen Beitrag für den erzieherischen Einsatz. ...

Interview: Kinder können Schwieriges verarbeiten über die Lebensgeschichten von Pflegekindern

Netz 2/2002, Zürich
Das Interview führte Kathrin Barbara Zatti

Was ist das Charakteristische in der Lebensgeschichte von Pflegekindern?

Das Besondere ist, dass Pflegekinder zwei Familien haben, eine, in der sie leben – und eine andere, aus der sie kommen. Zudem weist ihr Leben schwere Brüche auf, sie sind von Abschied, Schmerz und Trennung geprägt.

Das ist etwas ausserordentlich Schwieriges und Kompliziertes. Es existiert kein Modell, dass Kinder zwei Familien haben. Pflegekinder haben innerlich keine Klarheit, dass beide Familien zu ihrem Leben gehören. Sie müssen lernen, damit umzugehen: Das ist das Schwere, das Pflegekinder leisten müssen.

Wie kann man Kinder dabei unterstützen?

Das Entscheidende ist die innere Haltung der Bezugspersonen. Wenn die Pflegeeltern den Herkunftseltern des Kindes emotional – innerhalb des Lebensraumes – einen Platz geben, dann können Kinder auch besser mit ihrer Ausnahmesituation aufwachsen. So früh wie möglich sollten Pflegeeltern den Kindern sagen, dass sie von ihrer Mama und ihrem Papa abstammen. Sie können einem Kind auch beispielsweise sagen: »Dass du so gut bist im Rechnen, das hast du vielleicht von deiner Mutter, denn sie konnte womöglich auch gut rechnen. Dass du im Sport so gut bist, hast du wohl von deinem Vater.« Das Kind braucht eine Wertschätzung seiner Herkunft. Es geht darum, dass die Eltern im Leben des Kindes präsent bleiben dürfen. Dabei reicht es nicht, den Kindern zu erzählen, dass sie im Bauch »einer andern Frau« gewachsen sind. Diese Formulierung ist zu distanziert. Es sollte dem Kind gesagt werden: »Deine erste Mutter« oder so ähnlich. Es geht darum, die Präsenz herzustellen und die Eltern ein Stückchen im Alltag mitleben zu lassen. Das ist auch möglich bei Babys oder auch bei Kindern mit einer geistigen Behinderung. Man kann ihnen immer wieder erzählen, woher sie kommen. Und allmählich können sie es einordnen. ...

Die Aufklärung von Adoptivkindern über ihre Herkunft – Möglichkeiten, Grenzen und Dosierungen

Schweizerische Fachstelle für Adoption, Jahresbericht 2001, Zürich

Die Adoptivmutter der sechsjährigen Nina berichtet: »Als Nina vier war, hat sie mich gefragt, ob ich in ihrem Bauch gewachsen bin. Ich habe ihr ehrlich gesagt, dass sie im Bauch einer anderen Frau gewachsen ist. Nina hat gefragt, weshalb sie nicht bei dieser Frau geblieben ist. Da habe ich ihr erklärt: ›Diese Frau konnte dich nicht versorgen.‹ Seitdem hat sie nicht mehr gefragt. Sie will auch nicht hören, wenn ich ihr etwas über ihre Geschichte erzählen will. Ich mache mir Sorgen.«

Immer wieder gibt es Kinder, die ein Stoppsignal geben: Sie wollen nichts vom Thema Adoption hören. Mögliche Ursachen hierfür sind:

– Es bleibt für angenommene Kinder schmerzlich, dass sie nicht leibliches Kind in der Adoptivfamilie sind und ihre ersten Eltern verloren haben. Manche Kinder wollen diesem Schmerz aus dem Weg gehen. ...

Die Aufklärung von Adoptivkindern über ihre Herkunft im frühen Vorschulalter – kann dies falsch sein?

PFAD Nr. 4, 2001, Idstein

Eine Entgegnung auf Herbert Wieder von Irmela Wiemann

Immer mal wieder werde ich bei Vorträgen und Seminaren auf zwei Artikel von dem Psychoanalytiker Herbert Wieder angesprochen, die bei Harms und Strehlow (Hg.) in ihrem Buch »Das Traumkind in der Realität«, das erstmals 1990 erschien, abgedruckt wurden. In diesen Artikeln, die in den Jahren 1977/78 entstanden sind, vertritt Herbert Wieder, es schade Adoptivkindern, wenn ihnen im Vorschulalter gesagt wird, dass sie nicht im Bauch der Adoptivmutter gewachsen sind. Obwohl die gesamte Adoptionsliteratur im englisch- und deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren immer wieder neu ermutigt, Kindern früh zu vermitteln, dass sie im Bauch einer ersten Mutter gewachsen sind und von einem ersten Vater gezeugt wurden, haben die genannten Artikel bei Betroffenen und sogar bei einigen Fachleuten Verunsicherung ausgelöst. Und jene Adoptiveltern, die bisher ihren Kindern gegenüber über ihre Adoption geschwiegen haben, fühlen sich von den folgenden Ausführungen Wieders bestärkt:

»Ein Kleinkind braucht nicht zu wissen, dass es adoptiert ist; es muss wissen, dass es zu den Menschen gehört, die es als seine Eltern erlebt. (Wieder in Harms und Strehlow, S. 39) ... Das Wissen, das Adoptierte mit sich herumtragen, ist eine Last, die leiblichen Kindern erspart bleibt; es ist niemals weit vom Bewusstsein entfernt und übt einen machtvollen Einfluss auf die psychische Entwicklung aus. Klinische Daten widersprechen daher nicht nur wichtigen Prämissen jenes Grundprinzips, sondern sie bestätigen sogar die Annahme, dass eine frühzeitige Aufklärung traumatisch ist und die Persönlichkeitsentwicklung stört.« (Wieder in Harms und Strehlow, S. 36)

Die Position Wieders beunruhigt viele soziale Väter und Mütter, Pflege- und Adoptiv- oder Stiefeltern, die ihren Kindern schon früh die Wahrheit vermittelt haben und deren Kinder gut mit ihrer besonderen Wirklichkeit gedeihen. Herbert Wieder leitet seine Position von drei Fällen ab, Analysen mit adoptierten Kindern und Jugendlichen, von denen ich hier zwei genauer anschauen möchte. ...

Familienpflege als Hilfe zur Erziehung – Möglichkeiten, Grenzen und Qualitätsanforderungen

Jugendhilfe Nr. 5/2001, Neuwied

Interessenkollisionen zwischen Herkunftsfamilie, Jugendamt und Pflegefamilie bringen das Konstrukt »private Pflegefamilie« als Hilfe zur Erziehung oftmals an seine Grenzen. Viele Kinder und Jugendliche, die gemäß § 33 KJHG in Vollzeitpflege untergebracht sind, leben in einem Spannungsfeld und damit im seelischen Dauerstress. Bei der Vermittlung von Kindern und Jugendlichen in eine Pflegefamilie darf es sich nicht einfach um eine preiswerte Alternative zum Heim handeln. Damit sie sich als pädagogisch wertvoll erweist und sich Kinder und Jugendliche in der Familienpflege positiv entwickeln können, müssen viele soziale, perspektivische und psychologische Variablen miteinander abgestimmt werden und eine qualifizierte Betreuung für Pflegeeltern, Kinder und Jugendliche und Herkunftseltern ermöglicht werden. ...

Die Auflösung der Spezialdienste für Pflegekinder – ein großer Qualitätsverlust

Kindeswohl Nr. 4, 2000, Idstein

In der Folge der Studentenrevolte 1968/69 wurden unter dem Motto »Holt die Kinder aus den Heimen« in Deutschland verstärkt Pflegefamilien als Alternative zur Heimunterbringung gesucht. Die Bindungsforschung zeigte, dass ein Sicherheit und Geborgenheit gewährender familiärer Rahmen die bessere Chance für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen darstellt. Die Interessen der Kämmerer an dieser kostengünstigen Hilfeform führte dazu, dass Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter von ihren Amtsleitungen den Auftrag erhielten, bei erforderlicher Fremdplatzierung die Inpflegegabe in einer Familie zu bevorzugen. Die besonderen Spezialdienste für Pflegekinder wurden in den siebziger Jahren in vielen Landkreisen und Städten ausgebaut.

Der alte Streit: Ergänzungs- oder Ersatzfamilie?
Aber es kam oftmals zu Konflikten zwischen Allgemeinen Sozialdiensten und den Spezialdiensten für Pflegekinder. Der Streit, ob Pflegeeltern Ersatz- oder Ergänzungsfamilie für das Kind sein sollten oder durften, beherrschte die Szene derjenigen, die mit Pflegekindern fachlich oder persönlich befasst waren. Die Kolleginnen und Kollegen der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) warfen den Pflegekinderdiensten (PKD) vor, eine Rückkehr der Pflegekinder in ihre eigene Familie sei nahezu ausgeschlossen. Die Pflegekinderdienste versuchten dem ASD gegenüber zu verdeutlichen, dass Kinder sich in Familien binden und verwurzeln und nicht beliebig wieder umplatzierbar sind. So blieb das Streitthema »Für und Wider der Rückführung von Kindern aus Pflegefamilien zu ihren Eltern« ein Dauerkonflikt zwischen den Diensten.

Umstrukturierungen – eine Lösung des Problems?
Vielerorts erwägen derzeit politisch Verantwortliche in Landkreisen und Städten, die Fallverantwortung, Begleitung und Beratung von Pflegefamilien ebenfalls auf den ASD zu übertragen. In einigen Städten und Landkreisen wurden Spezialdienste für Pflegekinder aufgelöst oder reduziert. Dort sind die Spezialdienste für Pflegekinder nur noch für Werbung und Schulung von Pflegeeltern zuständig. Die Fallverantwortung für die einzelne Pflegefamilie liegt beim ASD im jeweiligen Bezirk. Von einigen betroffenen Jugendämtern weiß ich, dass dort Heimplatzierungen wieder zugenommen haben. ...

Die »systemische Familientherapie nach Bert Hellinger« – eine gefährliche Heilslehre

LAG-Erziehungsberatung in Hessen, Info 21/2000, Groß-Gerau

Seit Jahren werde ich hin und wieder bei Seminaren oder Workshops, die ich für Pflege- und Adoptiveltern gestalte, angesprochen: Machen Sie »Familienaufstellungen« nach Bert Hellinger? Meine Antwort lautet: «Nein. Ich lehne die Arbeitsweise von Hellinger ab«. Und manchmal füge ich hinzu: »Meine Arbeitsmethode entspricht der Familienskulptur, der Familienrekonstruktion, wie ich sie in den 1970er und 1980er Jahren von Hinda Steiner und Carol Gammer gelernt habe.« Dann kommt bei machen jungen KollegInnen Erstaunen auf: »Ach, gab es schon Skulpturarbeit vor Bert Hellinger?« Auch das ist falsch. Die klassische Skulpturarbeit in der Familienrekonstruktion hat mit dem, was Hellinger »Aufstellungen« nennt, und wie er oder seine Anhängerinnen und Anhänger mit den Klienten arbeiten, ganz und gar nichts zu tun. Vor zwei Jahren bekam ich ein begeistertes Schreiben einer Psychologin: »Hellinger ist eine Offenbarung für mich.« Sie hat das Wesentliche am Hellinger-Phänomen getroffen: Hat eine Offenbarung noch etwas mit einer seriösen Therapie zu tun?

Hellinger glaubt, was er sagt. Seine Sichtweise von der Welt ist berauschend einfach. Er hat Philosophie, Theologie und Pädagogik studiert und arbeitete sechzehn Jahre lang als  Mitglied eines katholischen Missionsordens. Seit 1993 praktiziert er »Familienstellen« vor Massenpublikum. (Focus 13/98, Wenn Therapeuten Gott spielen.)

Hellinger spricht fast in einem gemütlichen, liebevollen Plauderton, wirkt zunächst gar nicht autoritär, ist es aber doch. Wie meist bei »Führerpersönlichkeiten« »Gurus«, »Heilern«: In seinen immer wiederkehrenden Thesen vermischt sich Elementares, Treffendes und Stimmiges mit Dogma, Mythos und Irrationalität. Patriarchale Strukturen, fragwürdige Naturgesetzlichkeiten und antiemanzipatorische Werthaltungen stehen im Mittelpunkt von Hellingers »Ordnungen«. ...

Zweimal Eltern – wie Pflegekinder damit leben können

Frühe Kindheit, 3/2000, Berlin
Nachdruck in Patchwork family Nr. 03/2009, Viersen

Viele Paare bewerben sich im zuständigen Jugendamt für ein »Adoptivkind oder ein Pflegekind«. Sie nennen zwei Möglichkeiten alternativer Familiengründung in einem Atemzug und sind sich der tiefgreifenden Unterschiede der jeweiligen Familienstrukturen oft nicht deutlich bewusst.

Rolle und Auftrag an Pflegeeltern
Adoptivkinder sind formal und gesetzlich alleinige Kinder ihrer sozialen Eltern, sie haben alle Rechte wie leibliche Kinder auch. Die Adoptiveltern sind sorgeberechtigt, sie tragen den Unterhalt für das Kind allein. Allein ihre pychische Realität ist nicht kongruent mit der rechtlichen. Auch Adoptierte haben zweimal Eltern: Herkunftseltern und soziale Eltern.

Pflegeeltern hingegen sind Vertragspartner des Jugendamtes und erbringen als Privatfamilie eine Dienstleistung für die Herkunftseltern des Kindes. Dies wird auch in der finanziellen Unterstützung deutlich, die sie für den Unterhalt des Kindes und ihren erzieherischen Einsatz erhalten. Eltern, die seelisch, sozial oder gesundheitlich in Not und Krisen sind und ihre Kinder nicht versorgen können, haben nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) Anspruch auf Hilfe und Unterstützung durch das Jugendamt. Im Hilfeplan wird ihnen diese Leistung vertraglich zugesichert. Pflegeeltern sorgen für ein Kind, das gesetzlich und manchmal auch emotional das Kind seiner Eltern bleibt, auch dann, wenn die Eltern nicht mehr über das Sorgerecht verfügen. Pflegeeltern haben Anspruch auf fachliche Hilfe und Begleitung, die ihnen vom Vertragspartner Jugendamt gewährt werden soll. ...

Konfliktfeld Rückplatzierung

Netz 3/2000, Zürich
Nachdruck in Elternheft Nr. 83, 2/2003, Graz

Die Rückkehr von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilie ist ein brisantes Thema

Ob eine Rückführung dem seelisch-sozialen Wohl von Kindern dient oder nicht, ist heiss umstritten. Es hängt dabei meistens mit der Planung der Platzierung in einer Pflegefamilie zusammen, wenn später Interessenkonflikte entstehen.

Eine Pflegefamilie ist nicht einfach eine pädagogisch wertvollere oder auch preisgünstige Alternative zur Unterbringung im Heim. Ob ein Kind in einem Heim betreut wird oder ob es durch die Struktur der Hilfeform quasi aufgefordert wird, seine Familie auszutauschen, ist ein tiefgreifender Unterschied. Das Spezifische an der Massnahme Familienpflege ist das Angebot eines privaten Familienklimas, Bindung und die Rollen von Eltern und Kindern inbegriffen.

Spezifisch: Familienbeziehungen
Selbst innige Beziehungen zu Heimerzieherinnen und Heimerziehern haben keinen Eltern-Kind-Charakter und ersetzen nicht die Familienbeziehungen des Kindes zu seinen Eltern und Geschwistern. Kein Kind kann jedoch jahrelang in einer Familie leben, ohne sich dort auch zugehörig zu fühlen. Je jünger ein Kind zu sozialen Eltern und Geschwistern kommt, desto stärker entwickelt es eine Bindung an diese Menschen, genauso stark wie an eigene Eltern. ...

Familienbeziehungen
Adoptivfamilie, Pflegefamilie, Herkunftsfamilie: Durchs Netz gefallen – wer fängt mich auf?

Dokumentation zur Fachtagung vom 25.09.1999 in Bamberg, Hrsg. PFAD FÜR KINDER, Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Bayern e.V., Hubmannstr. 6, 86551 Aichach

Das Motto dieser Veranstaltung »Durchs Netz gefallen – wer fängt mich auf«, weckt so manche Assoziation. Von wem ist hier die Rede? Vom Kind? Ist es durchs Netz seiner eigenen Familie gefallen und wird jetzt von Pflege- oder Adoptivfamilie aufgefangen? Oder sind die Herkunftseltern durchs Netz unseres Gesellschaftssystems gefallen? Wer fängt sie auf? Und die Pflegefamilien und Adoptivfamilien: auch sie sind durchs Netz gefallen. Sie sind keine Normalfamilie mehr. Eigentlich müßten alle Beteiligten – Pflege- oder Adoptivfamilie, Herkunftsfamilie und Fachdienste – darauf achten, daß sie gemeinsam ein Netz spannen, aus dem keiner herausfällt. So ein Netz kann ganz unterschiedlich gesponnen sein. Die folgenden beiden Beispiele zeigen, daß es möglich ist, daß keiner ganz durchs Netz fallen muß, wenn wir ein gutes Netz von Beziehungen knüpfen. ...

Kontakte von Pflegekindern zu ihren Angehörigen

Kindeswohl Nr. 3, 1999, Idstein

Im neuen Kindschaftsrecht wird das Kind als Träger eigener Bedürfnisse, Interessen und Rechte hervorgehoben. Das Kind erhält bei Trennung oder Scheidung der Eltern einen eigenen Anspruch auf Umgang mit beiden Eltern, § 1684 BGB und § 17 (2) KJHG verpflichtet die Jugendhilfe, daß Kinder bei der Vereinbarung einer Sorgerechtsregelung und Umgangsregelung angemessen beteiligt werden. Doch bei der Reform des Kindschaftsrechts wurde es versäumt, die Gestaltung des Umgangs zwischen fremdplaziertem Kind und Eltern gesetzlich zu regeln. Die Kontakte eines Pflegekindes zu seinen Eltern sind in der Fachwelt, bei Familiengerichten und MitarbeiterInnen der Jugendämter nach wie vor ein strittiges Thema. Zwischen dem einen Extrem, Eltern uneingeschränkten Umgang einzuräumen und dabei Kinderschutz zu vernachlässigen bis zum anderen Extrem, die Kontakte zwischen Eltern und Pflegekind für schädlich zu halten, gibt es viele Varianten von Fachpositionen.

Wo liegen die Interessen des Kindes?

Kontakte des Kindes zu seinen Angehörigen – eingebettet in eine Reihe von Begleitmaßnahmen – sind für die seelische Entwicklung des Kindes meist die bessere Alternative. Der Abbruch von Kontakten zur Herkunftsfamilie kann beim Kind unbewusste Selbstwertprobleme, Schuldgefühle und Identitätskonflikte verstärken. Dennoch ist der Abbruch manchmal bei besonders schweren Gefährdungen und Misshandlungen in der Vergangenheit durch einen Elternteil zum Schutz des Kindes erforderlich.

Problematisch ist in der gegenwärtigen Jugendhilfepraxis, dass Rahmen, Häufigkeit und Gestaltung der Kontakte zwischen Kind und Eltern oft nicht ausreichend an der Verbleibensperspektive, dem Entwicklungsstand und der seelischen Situation der Kinder orientiert ist. Beispiele: ein fünfjähriges Kind mit einer engen Bindung an seine Mutter und einer Rückkehrperspektive soll in der Pflegefamilie erstmal zur »Ruhe kommen« und bekommt eine dreimonatige Kontaktsperre. Oder: Ein einjähriges Kind mit Dauerperspektive, das mit fünf Monaten in die Familie kam, soll einmal im Monat ein Wochenende beim leiblichen Vater erleben, obwohl es den Umgebungswechsel vom Alter her nicht regulieren kann und dort dieselbe belastende Situation herrscht, die zur Fremdplatzierung geführt hat. Oder ein Kind wurde von einem Elternteil schwer misshandelt, und dem Insistieren des Elternteils auf Umgang mit dem Kind wird vom Gericht stattgegeben, ohne dass Begleitung der Kontakte oder Beratung angeordnet wird. Es steckt keine böse Absicht hinter solchen den Interessen des Kindes zuwiderlaufenden Umgangsregelungen sondern eher ein Mangel an Kriterien, an Wissen und Unsicherheit, weil es sich um eine äußerst komplizierte Materie handelt. ...

Psychologische und soziale Voraussetzungen für die Rückführung von Pflegekindern zu ihren leiblichen Eltern

Unsere Jugend, Heft 6/1997, München

In letzter Zeit werde ich bei Fortbildungen für Pflegeeltern oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Jugendämtern zunehmend mit Rückführungen von Pflegekindern in ihre Herkunftsfamilien konfrontiert, die das kindliche Bindungsgeschehen und die traumatisierende Wirkung von Trennungen und den Schutz der Persönlichkeit des Kindes außer Acht lassen. Daß das KJHG die elterliche Verantwortung und das Elternrecht hervorhebt (nicht anders als das BGB dies schon lange tut), hat in vielen Jugendämtern zu Verunsicherung einerseits, aber auch – offensichtlich aus ökonomischen Gründen – zu neuen Prioritäten in der Jugendhilfe geführt.

Die folgenden drei Beispiele sind keine Einzelfälle. Sie dokumentieren Rückführungen, die in Zielsetzung und Gestaltung keineswegs dem seelischen Wohl der Kinder entsprechen.

Beispiel 1: Miriam
Miriam wurde im Alter von zehn Wochen in eine Pflegefamilie vermittelt. Ihre alkohol- und drogenabhängige junge Mutter, selbst von ihrem Stiefvater und ihrer eigenen Mutter unterdrückt und misshandelt, konnte ihr Baby nicht schützen und versorgen. Die zuständige ASD-Mitarbeiterin drohte mit der Beantragung des Entzugs der elterlichen Sorge, es sei denn, sie würde »Hilfe zur Erziehung« beantragen. Im Hilfeplan wurde festgelegt, dass Miriam die nächsten Jahre in einer Pflegefamilie leben soll und dass die Mutter daran arbeitet, ihre Alkohol- und Drogenabhängigkeit zu bewältigen. Miriam erlebte die Pflegeeltern als primäre Bezugspersonen. Die Mutter besuchte das Kind nur selten. Ihre Alkoholabhängigkeit blieb unverändert. Auf Druck ihrer eigenen Mutter wollte die junge Frau die Hilfemaßnahme eines Tages beenden, als Miriam zweieinhalb war. Die Jugendamtsmitarbeiterin wies die Pflegeeltern an, das Kind der Mutter am folgenden Samstag zu übergeben. Sie begründete, die Mutter hätte das volle Sorgerecht, niemand könne etwas dagegen tun, dass sie ihr Kind abhole. Miriam schrie verzweifelt, als sie von der ihr fast fremden Frau mitgenommen wurde. ...

Leibliche Kinder in Pflegefamilien

Blickpunkt Pflegekinder 3, September 1997, Hamburg
Nachdruck in Pfad Aktuell 01/2012, Aichach

Die zahlreichen Besonderheiten, die im Zusammenleben mit einem Pflegekind auftreten, führen häufig dazu, die Belastungen zu übersehen, die leibliche Kinder wegen der Pflegekinder mittragen. Nicht nur die Eltern zu teilen, sondern sie mit einem Kind zu teilen, das viel Unruhe in die Familie trägt, bedeutet für das leibliche Kind eine ganz große Herausforderung.

Natürlich hängt es vom Alter der Kinder und vom Aufnahmealter des Pflegekindes in die Familie ab und davon, was das Pflegekind zuvor alles erlebt hat. Doch meist lebt eine Familie durch ein Pflegekind in einem ganz neuen Beziehungsgeflecht. Zwischen Erwachsenen und Kindern, die schon lange zusammen gelebt haben, bilden sich unsichtbare Bande, selbstverständliches Aufeinandereingehen. Familienregeln und gesellschaftliche Normen sind wie von selbst verinnerlicht. Wenn Pflegeeltern und leibliches Kind versuchen, solche Bande und solche Familienregeln auch beim Pflegekind herzustellen, gelingt das oftmals nicht wie erwartet. Pflegekinder sprechen oft eine andere Seelensprache. Das kann für die Pflegeeltern und das leibliche Kind enttäuschend sein. ...

Das Kind in der Dynamik zwischen Herkunftsfamilie und Pflegefamilie

Pflegekinder in einer veränderten Welt, Dokumentation der europäischen IFCO-Konferenz 1994 in Berlin. Votum, Münster, 1995.

Die besondere Situation von Pflegekindern und ihren beiden Familien, Beratung von Pflegefamilien

in Hubert Cremer, Andreas Hundsalz, Klaus Menne (Hrsg.): Jahrbuch für Erziehungsberatung, Band 1. Weinheim, Juventa, 1994.

Abgebende Mütter und Väter, Einführung in das Thema aus familientherapeutischer Sicht

in Walter Bechinger, Uwe Gerber (Hrsg.): Die vergessene Seite der Adoption, Lahr, 1993

Pflegekinder suchen Geborgenheit – Herkunftsfamilie–Pflegefamilie: ein Spannungsfeld

SOS-Dialog, Heft 1993: Elternarbeit, München
Nachdruck in Kindeswohl Nr. 3 und Nr. 4, 1993, Idstein

Ich möchte aus deinem Bauch sein, Zur Situation von Kind, abgebenden Eltern und Adoptiveltern im Adoptionssystem

Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift 12, 1992, Stuttgart

Geschwisterbeziehungen in Pflege- und Adoptivfamilien
Adoptivfamilie, Pflegefamilie, Herkunftsfamilie: Durchs Netz gefallen – wer fängt mich auf?

Dokumentation zur Fachtagung Geschwisterbeziehungen vom 29.09.1990 in Donauwörth, Hrsg. PFAD FÜR KINDER, Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien in Bayern e.V., Hubmannstr. 6, 86551 Aichach

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